Deutsch-französisches Forschungsatelier: Bürgernahe Ziviljustiz 2.0

Im Jahr 2013 fand das erste deutsch-französische Forschungsatelier der Universitäten Erlangen-Nürnberg, Lyon 3 und Saint-Étienne zum Thema „Die bürgernahe Ziviljustiz in Deutschland und Frankreich“ statt. Seitdem hat sich viel getan: Die Diskussionen um eine Digitalisierung der Ziviljustiz haben in Deutschland und in Frankreich deutlich Fahrt aufgenommen. Zudem entwickelt sich, zumindest in Frankreich, nach und nach eine Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung. Elf Jahre nach der ersten Veranstaltung gilt es daher, dieses so wichtige Thema einer Aktualisierung zu unterziehen.
Am 12. und 13. März 2024 werden etwa 50 deutsche und französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Promovierende und Studierende für rechtsvergleichende Überlegungen zur bürgernahen Ziviljustiz an der Universität Lyon 3 zusammenkommen.

Abschlussbericht „Die obligatorische Schlichtung im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“

Drei Jahre lange durfte ich, mit einem tollen Team der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und des CERCRID (Universität Saint-Etienne/Frankreich) die obligatorische Schlichtung im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich rechtsvergleichend erforschen.

Die Arbeit wurde vom Institut des études et de la recherche sur le droit et la justice unterstützt.

Der Abschlussbericht und eine Zusammenfassung sind nun unter https://gip-ierdj.fr/fr/publications/mediation-conciliation-proces/ erschienen.

Eine Vorstellung der Ergebnisse in deutscher Sprache und für die deutschen Akteure der obligatorischen Schlichtung ist bereits in Arbeit.

Neue Instrumente der einvernehmlichen Streitbeilegung in Frankreich

Nicht selten entwickelt sich das französische Zivilprozessrecht in rasanter Geschwindigkeit weiter. Erst Ende April 2023 hat der französische Justizminister seine Politik der einvernehmlichen Streitbeilegung (politique de l´amiable) gestartet. Das Décret n° 2023-686 vom 29. Juli 2023 führt nun mit Wirkung für ab dem 1. November 2023 neu eingeleitete Verfahren zwei neue Instrumente der einvernehmlichen Streitbeilegung in das französische Zivilprozessrecht ein:

  • Audience de règlement amiable: In den Art. 774-1 ff. der französischen ZPO (Code de procédure civile) finden sich Vorschriften zu einer neuen Phase der einvernehmlichen Streitbeilegung. Die Machart dieser Streitbeilegungsform erinnert an das deutsche Güterichterverfahren des § 278 Abs. 5 ZPO. Die Besonderheit der audience de règlement amiable besteht darin, dass der Versuch der einvernehmlichen Streitbeilegung vor einem nicht zur Entscheidung über die Rechtssache berufenen Richter stattfindet, an den das erkennende Gericht verweisen kann.
  • Césure du procès: Die sog. césure du procès (Art. 807-1 ff. CPC) ermöglicht künftig die Abschichtung des Streitstoffes. Die Vorschriften ähneln denen den deutschen Bestimmungen über Teil-/Zwischen- oder Grundurteile (§§ 301 ff. ZPO), weisen aber keine derart engen Voraussetzungen auf. Ausreichend für die césure ist, dass die Parteien per Anwaltsschreiben einvernehmlich ein Urteil über einen abgrenzbaren Teil des Anspruchs beantragen können. Die von den Parteien abgeschichteten Teile des Streitstoffes werden dann von der Beweiserhebung ausgenommen und unmittelbar durch mittels Berufung anfechtbares Urteil entschieden. Die Beschleunigung des Berufungsverfahrens nach Art. 905 CPC findet auch auf die césure du procès Anwendung.

Es bleibt abzuwarten, wie sich diese neuen Möglichkeiten ab 1. November 2023 in der französischen Gerichtspraxis bewähren.

Frankreich führt die obligatorische Schlichtung im Zivilprozess wieder ein

In einer Entscheidung vom 22. September 2022 (n° 436939, ECLI:FR:CECHR:2022:436939.20220922) hat das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d´Etat, einige Bestimmungen des Décret n° 2019-1333 du 11 décembre 2019 (Rechtsverordnung zur Reform des Zivilprozesses) annulliert (sh. hierzu den Beitrag https://www.martin-zwickel.de/franzoesisches-recht/kippt-der-conseil-detat-die-obligatorische-schlichtung-in-frankreich/).

Wiederherstellung der Pflicht zur obligatorischen Schlichtung im Zivilprozess

Der französische Verordnungsgeber hat am 11. Mai 2023 nun ein Décret (Décret n° 2023-357 du 11 mai 2023) erlassen, mit dem er die Verpflichtung, vor einer zivilprozessualen Klage einen Schlichtungsversuch zu unternehmen, wiederhergestellt hat. 

Der neue, für ab dem 1. Oktober 2023 eingeleitete Verfahren gültige Art. 750-1 Code de procédure civile (CPC) ist bis auf die Ausbesserung der neuralgischen Stelle identisch mit der Fassung vor dem Urteil des Conseil d´Etat. 

Moniert hatte der Conseil d’Etat, dass in der ursprünglichen Fassung eine Ausnahme von der Pflicht zu einem obligatorischen Schlichtungsversuch zu vage gefasst war. Ein Schlichtungsversuch war dann nicht erforderlich, wenn nicht ausreichend conciliateurs de justice verfügbar sind und eine erste Schlichtungssitzung daher nur nach offensichtlich überlanger Wartezeit durchgeführt werden könnte („indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai manifestement excessif au regard de la nature et des enjeux du litige”). Diese Stelle wird nun insofern präzisiert als die Ausnahme künftig nur dann greift, wenn die fehlende Verfügbarkeit von Schlichtern (conciliateurs de justice) dazu führt, dass die erste Schlichtungssitzung erst nach mindestens 3 Monaten seit dem Schlichtungsantrag durchgeführt werden kann (indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai supérieur à trois mois à compter de la saisine d’un conciliateur).

Neue Fassung des Art. 750-1 CPC (neu)

Art. 750-1 CPC (neu) lautet wie folgt: 

Französische Fassung

Art. 750-1
En application de l’article 4 de la loi n° 2016-1547 du 18 novembre 2016, à peine d’irrecevabilité que le juge peut prononcer d’office, la demande en justice est précédée, au choix des parties, d’une tentative de conciliation menée par un conciliateur de justice, d’une tentative de médiation ou d’une tentative de procédure participative, lorsqu’elle tend au paiement d’une somme n’excédant pas 5 000 euros ou lorsqu’elle est relative à l’une des actions mentionnées aux articles R. 211-3-4 et R. 211-3-8 du code de l’organisation judiciaire ou à un trouble anormal de voisinage.

Les parties sont dispensées de l’obligation mentionnée au premier alinéa dans les cas suivants :

1° Si l’une des parties au moins sollicite l’homologation d’un accord ;

2° Lorsque l’exercice d’un recours préalable est imposé auprès de l’auteur de la décision ;

3° Si l’absence de recours à l’un des modes de résolution amiable mentionnés au premier alinéa est justifiée par un motif légitime tenant soit à l’urgence manifeste, soit aux circonstances de l’espèce rendant impossible une telle tentative ou nécessitant qu’une décision soit rendue non contradictoirement, soit à l’indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai supérieur à trois mois à compter de la saisine d’un conciliateur ; le demandeur justifie par tout moyen de la saisine et de ses suites ;

4° Si le juge ou l’autorité administrative doit, en application d’une disposition particulière, procéder à une tentative préalable de conciliation ;

5° Si le créancier a vainement engagé une procédure simplifiée de recouvrement des petites créances, conformément à l’article L. 125-1 du code des procédures civiles d’exécution.

Deutsche Übersetzung

Art. 750-1 

(1) In Anwendung von Artikel 4 des Gesetzes Nr. 2016-1547 vom 18. November 2016 geht der Klage nach Wahl der Parteien ein Schlichtungsversuch durch einen Schlichter (conciliateur de justice), ein Mediationsversuch oder ein Versuch des partizipativen Verfahrens (procédure participative = vertragliches Konfliktlösungsverfahren nach Art. 2062 ff. Code civil) voraus, wenn sie auf die Zahlung eines Betrags von höchstens 5 000 Euro gerichtet ist oder wenn sie sich auf einen der in den Artikeln R. 211-3-4 und R. 211-3-8 des Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Streitgegenstände oder auf eine Störung des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses bezieht.

Die Parteien sind in den folgenden Fällen von der in Absatz 1 genannten Verpflichtung befreit:

1° Wenn mindestens eine der Parteien die Vollstreckbarerklärung (homologation) eines Vergleichsvertrags beantragt;

2° Wenn ein Vorverfahren bei der Stelle, die die Entscheidung getroffen hat, vorgeschrieben ist;

3° Wenn das Absehen vom Versuch einer der in Absatz 1 genannten einvernehmlichen Streitbeilegungen durch ein berechtigtes Interesse gerechtfertigt ist, das sich entweder auf eine offensichtliche Dringlichkeit oder auf die Umstände des Falles bezieht, die einen solchen Versuch unmöglich machen oder eine Entscheidung ohne Anhörung der Parteien erfordert. Ein solches berechtiges Interesse liegt auch bei einer Nichtverfügbarkeit von Schlichtern (conciliateurs de justice) vor, die zur Folge hat, dass die erste Schlichtungssitzung mehr als drei Monate nach der Befassung eines Schlichters stattfinden muss; der Antragsteller hat den Schlichtungsantrag und seine Folgen glaubhaft zu machen;

4° Wenn das Gericht oder die Verwaltungsbehörde aufgrund einer besonderen Vorschrift einen vorherigen Schlichtungsversuch durchführen muss ;

5° Wenn der Gläubiger vergeblich ein vereinfachtes Verfahren zur Beitreibung von Kleinforderungen (rocédure simplifiée de recouvrement des petites créances, conformément à l‘article L. 125-1 du code des procédures civiles d’exécution) durchgeführt hat.

Kurze Bewertung der Neuregelung

Der französische Verordnungsgeber verschenkt die Chance einer Neukodifizierung des obligatorischen Schlichtungsversuchs. Folgende Probleme bestehen:

  • Die Ausnahmetatbestände vom obligatorischen Schlichtungsversuch sind weiterhin sehr weit gehalten (motif légitime).
  • Die bloße Nichtverfügbarkeit einer ausreichenden Zahl an Schlichtungspersonen führt noch immer zu einem möglichen Absehen vom Schlichtungsversuch.
  • Der Verordnungsgeber führt den problematischen Begriff „saisine d´un conciliateur“ ein. Die conciliateurs de justice werden in Frankreich aber sehr niederschwellig, oft per bloßer Terminvereinbarung im Rathaus, angerufen. Es müsste also künftig der Antragszeitpunkt in geeigneter Form dokumentiert werden.

Weitergehende Überlegungen zur einvernehmlichen Streitbeilegung 

Die schnelle Wiedereinführung der Pflicht zur obligatorischen Schlichtung ist nur ein erster Schritt in den sehr intensiven Bemühungen um die Verankerung einer “Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung” im französischen Zivilprozess. Der französische Justizminister hat schon im Januar 2023 eine “kulturelle Revolution” mit neuen Mechanismen der einvernehmlichen Streitbeilegung angekündigt, die nun nach und nach eingeführt werden sollen (sh. den Bericht des französischen Justizministeriums). 

Gedacht ist an folgende Neuerungen: 

  • Procédure participative de mise en état: Eine gemeinsam von Gericht und Parteien prozessvertraglich gesteuerte Abschichtung von Streitstoff in einem Verfahren zur einvernehmlichen Beweisaufnahme. 
  • Audience de règlement amiable: Eine Verfahrenskonferenz zur einvernehmlichen Streitbeilegung, d. h. eine Art Mischung aus “Güteverhandlung” und “Case management conference”.  
  • Césure: Ein in die zwei Phasen “Entscheidung über einen Teil der Streitgegenstands” und “einvernehmliche Streitbeilegung des Rests des Streits” unterteiltes Verfahren nach dem Vorbild des deutschen Grund-, Teil und Zwischenurteils. 
  • Recodification: Alle Regelungen zur einvernehmlichen Streitbeilegung sollen, nach dem Vorbild einer Zivilkonfliktlösungsordnung, in einem neuen Kapitel des CPC Platz finden.

Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen: Ergebnisse einer Umfrage bei den EU-Mitgliedsstaaten

Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung heißt es: “Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.” Über eben jene Veröffentlichung möglichst aller Gerichtsentscheidungen wird seitdem in der juristischen Fachöffentlichkeit viel diskutiert. Das OLG Celle hat die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen am 14.12.2022 unter dem Titel “Sind Urteile für alle da?” mit einer sehr aufschlussreichen Podiumsdiskussion in den Blick genommen. 

Auch auf europäischer Ebene gibt es interessante Informationen zur Thematik: 

Die französische Präsidentschaft des Rats der EU hat bei zahlreichen Mitgliedsstaaten den aktuellen Stand in Sachen “Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen” abgefragt und einen vergleichenden Bericht erarbeitet. 

Überblick über die Inhalte des Berichts

Fünf Erkenntnisse gehen aus dem Bericht hervor: 

  1. Alle befragten Staaten arbeiten an einer digitalen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen, das aber in ganz unterschiedlichem Umfang. Teilweise steht für Mitgliedsstaaten (wie z. B. Frankreich) schon fest, dass perspektivisch alle Gerichtsentscheidungen veröffentlicht werden sollen (dazu Zwickel, RohR 2021, 132 ff.). Die meisten Mitgliedsstaaten veröffentlichen nur eine Auswahl an Entscheidungen. 
  2. Gründe, die die Veröffentlichung im Einzelfall beschränken können, sind Rechte und schutzwürdige Interessen der Betroffenen einerseits oder Relevanzkriterien (wie z. B. die deutsche Veröffentlichungswürdigkeit) andererseits.
  3. Alle befragten Mitgliedsstaaten nehmen eine Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung vor der Veröffentlichung vor (per KI, automatisiert oder händisch).  
  4. Nur ein kleiner Teil der befragten Staaten schränkt die Verwendung der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen durch Spezialregelungen ein. Schon seit 2019 ist es etwa in Frankreich verboten, die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf Identitätsdaten von Richtern und Justizangehörigen mit dem Ziel oder der Wirkung auszuwerten, eine Bewertung, Analyse, Vergleich oder Vorhersage ihrer tatsächlichen oder angeblichen Berufspraktiken zu erhalten. 
  5. Von Ausnahmefällen abgesehen gibt es keinerlei Streitbeilegungseinrichtungen oder Kontrollinstanzen im Hinblick auf die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen. 

Link zum Bericht

http://www.justice.gouv.fr/_telechargement/rapport_pfue_sem_cmjn.pdf

Fazit

Es zeigt sich deutlich, dass nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten im Bereich der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen aktiv sind. Es ist daher an der Zeit, dass in Deutschland nicht mehr über das (seit der Entscheidung des BVerwG vom 26.2.1997, 6 C 3.96 ohnehin schon als verpflichtend gesetzte) “Ob” der Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen diskutiert wird, sondern über das “Wie”. 

Folgende (nicht abschließenden) Fragen zeigen den großen Diskussions- und Abstimmungsbedarf beispielhaft auf: 

  • Welchen Grad an Anonymisierung/Pseudonymisierung brauchen wir? 
  • Sollten alle Gerichtsentscheidungen gleichrangig und unselektiert veröffentlicht werden oder brauchen wir eine gewisse Hierarchisierung (etwa nach Instanz)?
  • Brauchen wir eine Markierung wirklich relevanter Entscheidungen (z. B. bei Rechtsprechungsänderungen) durch das erkennende Gericht?
  • Macht die massenhafte Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine Änderung der Arbeitsweise von Gerichten und Rechtsanwaltschaft im Umgang mit Präjudizien erforderlich (z. B. Angabe nur des Aktenzeichens und eines Kategorisierungsmerkmals für den Grund des Zitats, wie “abweichende Rechtsprechung”, “Bestätigung”, etc. statt Wiedergabe von Entscheidungsinhalten durch wörtliche Zitate)?
  • Muss die Auswertung der Entscheidungsdaten durch Rechtsregeln gelenkt werden (z. B. Verbot von Rückschlüssen auf die Tätigkeit einzelner Richter/-innen)?
  • Wer kontrolliert die Anonymisierung und Veröffentlichung?
  • Wie müssen Wissenschaft und Juristenausbildung künftig mit der neuen Fülle an Argumentationsmaterial in Form von Gerichtsentscheidungen umgehen?  

Kippt der Conseil d´Etat die obligatorische Schlichtung in Frankreich?

In einer Entscheidung vom 22. September 2022 (n° 436939, ECLI:FR:CECHR:2022:436939.20220922) hat das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d´Etat, einige Bestimmungen des Décret n° 2019-1333 du 11 décembre 2019 (Rechtsverordnung zur Reform des Zivilprozesses) mit zivilprozessualen Reformbestimmungen annulliert.

Das Aus für die obligatorische Schlichtung in Zivilsachen?

Zu den mit der Entscheidung aufgehobenen Normen zählt Art. 750-1 Code de procédure civile. In dieser Vorschrift wird angeordnet, dass eine Zahlungsklage mit Streitwert von nicht mehr als 5.000 € als unzulässig abgewiesen werden kann, wenn nicht vorher ein außergerichtlicher Schlichtungsversuch unternommen wurde. In der Regel sind für diese Schlichtungsversuche sog. conciliateurs de justice, d. h. ehrenamtliche Schiedspersonen, zuständig.

Der Conseil d´Etat stellt in seiner Begründung klar, dass er sich weder am Grundsatz der obligatorischen Schlichtung noch an der Definition des Streitwertbereichs bis 5.000 € stört.

Die Vorschrift sieht zugleich einige Ausnahmefälle vom Schlichtungserfordernis vor. Eine Schlichtung ist u. a. dann nicht durchzuführen, wenn nicht ausreichend conciliateurs de justice verfügbar sind und eine erste Schlichtungssitzung daher nur nach offensichtlich überlanger Wartezeit durchgeführt werden könnte („indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai manifestement excessif au regard de la nature et des enjeux du litige„).

Diese Ausnahmebestimmung sieht der Conseil d´Etat als zu unbestimmt an. Sie beeinträchtige daher die Effektivität des (gerichtlichen) Rechtsschutzes. Der Conseil d´Etat hat daher Art. 750-1 CPC annulliert.

Welche Auswirkungen hat die Entscheidung?

Die Entscheidung des Conseil d´Etat ist klar. Sehr schwierig sind aber ihre praktischen Folgen einzuschätzen. Die Schwierigkeiten ergeben sich einerseits aus einer Beschränkung der zeitlichen Auswirkung der Entscheidung durch den Conseil d´Etat und andererseits aus dem Zusammenspiel mehrerer Normkomplexe mit gleichen Regelungsinhalt.

  • Eigentlich kommt einer solchen Entscheidung des Conseil d´Etat Wirkung für die Vergangenheit zu. Die Vorschrift ist damit nie in Kraft getreten. Allerdings hat der Conseil d´Etat auch die deutlich zu knappen Übergangsvorschriften des angegriffenen Décret 2019-1333 annulliert (Erlass: 11.12.2019, Inkrafttreten 1.1.2020). Das würde dazu führen, dass das Décret nach den allgemeinen Regeln schon am übernächsten Tag nach Zeitpunkt seines Erlasses (13.12.2019) in Kraft getreten wäre, d. h. früher als eigentlich geplant. Um ein solches Vorziehen der eigentlich erst ab 1.1.2020 erwünschten Wirkungen des Rechtsakts zu vermeiden, spricht der Conseil d´Etat aus, dass für die Zeit von 13.12.2019 bis 1.1.2020 alles beim Alten bleibt.
  • Der Conseil d´Etat annulliert zwar Art. 750-1 CPC in der Fassung des Décret 2019-1333. Angestoßen wurde die Thematik der obligatorischen Schlichtung aber schon im Jahr 2016 durch Art. 4 Loi n° 2016-1547 du 18 novembre 2016 (sh. dazu ausführlich Zwickel, ZEuP 2018, 416), d. h. durch ein Parlamentsgesetz. Es ist daher naheliegend, davon auszugehen, dass (auch wenn Art. 750-1 CPC annulliert wurde) es bei der obligatorischen Schlichtung nach den früheren gesetzlichen Regelungen bleiben könnte. Diese Frage wird derzeit in der französischen Rechtswissenschaft sehr intensiv diskutiert.

Es ist vorerst nicht davon auszugehen, dass durch die Entscheidung des Conseil d´Etat die obligatorische Schlichtung in Frankreich vollständig entfallen ist.

Wie geht es nun weiter?

Es steht zudem zu erwarten, dass das französische Justizministerium schnellstmöglich ein „Nachfolger“-Décret in Kraft setzen wird und so ein „korrigierter“ Art. 750-1 Code de procédure civile geschaffen werden wird.

Deutsch-französisches Seminar: „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“

  • Wie tragen Schiedsleute und Gütestellen zur einvernehmlichen Beilegung von Zivilstreitigkeiten in Deutschland und Frankreich bei?
  • Wie läuft die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich in der Praxis ab?
  • Welchen Status haben die Akteure der einvernehmlichen Streitbeilegung in Deutschland und in Frankreich?
  • Wie kann die obligatorische Schlichtung mit dem Gerichtsverfahren verzahnt werden?

Zu diesen Fragen diskutierten am 27. und 28. Juni 2022 die 23 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des gemeinsamen Forschungsseminars der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Université Jean Monnet Saint-Etienne.

Ablauf der Veranstaltung

Nachdem sie von den Projektverantwortlichen des Forschungsprojekts „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“, Prof. Dr. Marc Véricel (Saint-Etienne) und PD Dr. Martin Zwickel (Erlangen-Nürnberg), vorab im Rahmen der bisherigen Forschungen herausgearbeitete Detailfragen zu den o. g. Themenkomplexen erhalten hatten, kamen deutsche und französische Wissenschaftler/-innen, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen sowie Richter/-innen und Schiedsleute im Rahmen eines World Cafés an Kaffeetischen zusammen und tauschten sich intensiv zu den gestellten Fragen aus. Rechtsvergleichende Arbeitsergebnisse wurden sodann auf Flipcharts dokumentiert und in einer Postersession dokumentiert und im Plenum diskutiert.

Während eines Rahmenprogramms (Exkursion nach Nürnberg mit Stadtführung und typisch fränkischem Bratwurstessen) hatten die Teilnehmer Gelegenheit, die begonnenen Diskussionen fortzuführen und zu erweitern.

Der deutsch-französische Austausch soll 2023 an der Universität Saint-Etienne fortgesetzt werden.

Bericht eines französischen Teilnehmers

Nachfolgend finden Sie die Übersetzung eines Veranstaltungsberichts von Hr. Théophile Le Diouron (conciliateur de justice in Rennes):

Bilder von der Veranstaltung

Deutsch-französische Tagung „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“

Am Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg organisiere ich mit dem CERCRID (Universität Jean Monnet Saint-Étienne) am 27. und 28. Juni 2022 ein gemeinsames deutsch-französisches Seminar zum Thema „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“ . Im Seminar soll in mehreren World-Café-Runden ein intensiver Austausch deutscher und französischer Wissenschaftler/-innen, Schlichter/-innen, Richter/-innen sowie weiterer an der Thematik der einvernehmlichen Streitbeilegung interessierter Personen stattfinden. Diskutiert werden verschiedene, im Zwischenbericht des Forschungsvorhabens aufgeworfene Fragen der obligatorischen Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich. Ziel ist es, auf diesem Wege rechtsvergleichende Erkenntnisse bzw. Vorschläge zur Praxis und Ausgestaltung der obligatorischen Schlichtung in beiden Ländern zu gewinnen.

Interessierte sind herzlich zu dieser Veranstaltung eingeladen!

Bei Interesse am Programm, an einer Teilnahme bzw. den Arbeitsergebnissen freue ich mich über eine kurze Mail!

Der Ausbau der (digitalen) Transparenz der Justiz in Frankreich

Seit 2. April 2022 dürfen unter bestimmten Voraussetzungen Gerichtsverhandlungen aufgezeichnet und anschließend in den Medien ausgestrahlt werden. Die Reform ist Teil eines Maßnahmenpakets zur Stärkung des Vertrauens in die Justiz (Loi du 22 décembre 2021 pour la confiance dans l’institution judiciaire).

Mit Details der Bestrebungen zum Ausbau der Transparenz in der Justiz habe ich mich in einem Beitrag in RohR 2021, 132 ff. beschäftigt: