Paradigmenwechsel im französischen Zivilprozess: Einvernehmliche Streitbeilegung, Kooperation, Digitalisierung

KI-generiertes Bild (Google Gemini)

Der französische Gesetzgeber reformiert mit mehreren Décrets (Verordnungen) derzeit sein Zivilprozessrecht. Viele der Änderungen des Code de procédure civile (CPC) gelten bereits ab dem 1. September 2025. 
Durch die Reformen kommt es zu einer Neuausrichtung des Zivilprozesses. Drei Kernelemente kennzeichnen diesen Paradigmenwechsel: 

  • Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung: Die Reformen machen deutlich, dass Frankreich es mit der Etablierung einer Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung ernst meint. Der Zivilprozess ist fortan nicht mehr das Standardstreitbeilegungsinstrument in Zivilsachen. Vielmehr gehört es auch zum Auftrag der Richterinnen und Richter, gemeinsam mit den Parteien das optimal für die Beilegung des Rechtsstreits geeignete Verfahren festzulegen (Art. 21 CPC in der ab 1. September 2025 gültigen Fassung).
  • Kooperationsmaxime: Die Durchführung des Beweisaufnahmeverfahrens ist nicht mehr nur Sache des Gerichts. Vielmehr findet ein Rollentausch statt. Grundsätzlich steuern die Parteien in ab dem 1. September 2025 neu eingeleiteten Verfahren einvernehmlich das Verfahren der Beweisaufnahme. Nur bei Scheitern dieses Unterfangens greift das Gericht ein. 
  • Digitalisierung: Der elektronische Rechtsverkehr, auch über das bereits existente Bürgerportal www.justice.fr, wird weiter gefördert.

Überblick

Folgende Reformverordnungen liegen derzeit vor: 

  • Décret n° 2024-673 du 3 juillet 2024 portant diverses mesures de simplification de la procédure civile et relatif aux professions réglementées (Magicobus 1):
    Stärkung der Rolle des für die Beweisaufnahme zuständigen Richters, des juge de la mise en état und Ausweitung der sog. audience de règlement amiable (ARA) ab 1. September 2024
  • Décret n° 2025-619 du 8 juillet 2025 portant diverses mesures de simplification de la procédure civile (Magicobus 2):
    Digitalisierung der Justiz und Anpassung der Regeln über zivilprozessuale Schriftsätze
  • Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025 portant réforme de l’instruction conventionnelle et recodification des modes amiables de résolution des différends:
    Kollaborationsprinzip und Neukodifikation des fünften Buches der französischen Zivilprozessordnung über die einvernehmliche Streitbeilegung ab 1. September 2025
  • Décret n° 2025-772 du 5 août 2025 relatif à la procédure applicable au contentieux de l’indemnisation des passagers en cas de refus d’embarquement, d’annulation ou de retard important d’un vol: Einführung einer obligatorischen Verbrauchermediation für Klagen auf Basis der EU-Fluggastrechte-Verordnung ab 7. Februar 2026.

Zentrale Reformthemen

Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung

Neues Grundprinzip 

Mit dem Décret vom 18. Juli 2025 wird der Verfahrensgrundsatz des Art. 21 CPC geändert. Er lautet ab 1. September 2025 wie folgt: 

“Il entre dans la mission du juge de concilier les parties et de déterminer avec elles le mode de résolution du litige le plus adapté à l’affaire.

Die fett markierte, neue Klarstellung macht deutlich, dass der Richter auch einen Auftrag im Rahmen der Auswahl eines geeigneten Streitbeilegungsverfahrens hat.

Neues fünftes Buch der französischen ZPO zur einvernehmlichen Streitbeilegung und verpflichtendes Informationsgespräch über die einvernehmliche Streitbeilegung

In einem neu konzipierten fünften Buch des CPC werden alle Mechanismen der einvernehmlichen Streitbeilegung übersichtlich geregelt.

Neu sind allgemeine Regeln zur Vertraulichkeit aller Verfahren der alternativen Konfliktlösung.

Eine weitere zentrale Neuerung im französischen Zivilprozess durch das Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025 ist die ab 1. September 2025 gegebene Möglichkeit der sanktionsbewährten richterlichen Anordnung eines verpflichtenden Informationsgesprächs bei einem Schlichter oder Mediator zu Zielen und Ablauf eines entsprechenden Verfahrens der einvernehmlichen Streitbeilegung. Der Richter kann das Fernbleiben einer Partei ohne vernünftigen Grund mit einer Strafzahlung (amende civile) in Höhe von maximal 10.000 € sanktionieren.

Art. 1533.-Le juge peut, à tout moment de l’instance, enjoindre aux parties de rencontrer, dans un délai qu’il détermine, un conciliateur de justice ou un médiateur qui les informera sur l’objet et le déroulement de la conciliation ou de la médiation.

Art. 1533-3.-Le conciliateur de justice ou le médiateur informe le juge de l’absence d’une partie à la réunion.
La partie qui, sans motif légitime, ne défère pas à l’injonction prévue au premier alinéa de l’article 1533 peut être condamnée au paiement d’une amende civile d’un maximum de 10 000 euros.

Ausweitung der audience de règlement amiable (ARA)

Die erst ab 1. November 2023 eingeführte audience de règlement amiable (ARA) wird auf alle Verfahren (auch Berufungsverfahren!) ausgeweitet und in das neue fünfte Buch der ZPO übernommen. Sie entspricht grob dem deutschen Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPO. Nach entsprechender Verweisung durch das erkennende Gericht führt, im Rahmen der ARA, ein nicht entscheidungszuständiger Richter eine gerichtsintegrierte Schlichtung durch.

Art. 1532.-Le juge saisi du litige ou chargé de l’instruction de l’affaire peut, à la demande de l’une des parties ou d’office après avoir recueilli leur avis, décider qu’elles seront convoquées à une audience de règlement amiable tenue par un juge qui ne siège pas dans la formation de jugement.

Art. 1532-1.-L’audience de règlement amiable a pour finalité la résolution amiable du différend entre les parties, par la confrontation équilibrée de leurs points de vue, l’évaluation de leurs besoins, positions et intérêts respectifs, ainsi que la compréhension des principes juridiques applicables au litige.
Le juge chargé de l’audience de règlement amiable peut prendre connaissance des conclusions et des pièces échangées par les parties.

Art. 1532-3.-A l’issue de l’audience, les parties peuvent demander au juge chargé de l’audience de règlement amiable, assisté du greffier, de constater leur accord, total ou partiel, dans les conditions du troisième alinéa de l’article 1531.
Le juge informe le juge saisi du litige qu’il est mis fin à l’audience de règlement amiable et lui transmet, le cas échéant, le procès-verbal d’accord.

Obligatorische Mediation für Fluggastrechtestreitigkeiten

Für Fluggastrechtstreitigkeiten nach der EU-Fluggastrechteverordnung ist ab 7.2.2026, nach dem Décret n° 2025-772 du 5 août 2025 , vor Anrufung eines Zivilgerichts ein obligatorischer Mediationsversuch erforderlich. Fehlt dieser Mediationsversuch, weist der Richter die Klage von Amts wegen als unzulässig ab. Zuständig für den Mediationsversuch ist der médiateur de la consommation, der Verbrauchermediator. Die obligatorische Mediation greift aber nicht, sofern der Anspruch vor dem 7.8.2025 schon bei der Fluggesellschaft geltend gemacht wurde. 

Zudem darf eine Klage künftig nur noch im Namen eines Einzelklägers oder für bestimmte Verwandte erhoben werden. Eine Bündelung der Ansprüche einer Vielzahl an Anspruchsberechtigten ist künftig nicht mehr möglich. 

A peine d’irrecevabilité que le juge relève d’office, l’assignation ne peut être délivrée qu’au nom d’un seul demandeur ou conjointement par les passagers d’un même vol, dès lors qu’ils sont ascendants ou collatéraux jusqu’au quatrième degré, ou conjoints, partenaires liés par un pacte civil de solidarité ou concubins, et après avoir été précédée d’une tentative de médiation devant un médiateur de la consommation dans les conditions prévues par les articles L. 612-1 à L. 612-3 et R. 612-1 à R. 612-5 du code de la consommation.
L’irrecevabilité pour absence de tentative de médiation préalable ne peut être opposée au demandeur lorsque cette absence est justifiée par un motif légitime tenant soit aux circonstances de l’espèce qui ont rendu impossible la saisine du médiateur dans le délai d’un an prévu au 4° de l’article L. 612-2 du code de la consommation, soit à l’indisponibilité du médiateur de la consommation laquelle n’a pas permis que l’issue de la médiation intervienne dans un délai de six mois à compter de sa saisine.

Kooperationsmaxime

Einvernehmliche Beweisaufnahme

Das Verfahren der Beweisaufnahme wird künftig standardmäßig einvernehmlich von den Parteien durchgeführt (Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025). Dazu steht den Parteien für ab dem 1. September 2025 neu eingeleitete Verfahren zusätzlich das neue Instrument  eines einfach ausgestalteten Prozessvertrags  (instruction conventionnelle simplifiée) zur Verfügung, in dem sie Details wie etwa Beweismittel und Beweisverfahren regeln können. So kann beispielsweise ein Sachverständiger einvernehmlich von den Parteien beauftragt werden und das Ergebnis dann im Zivilprozess verwendet werden. Ein solcher Sachverständiger darf zugleich auch eine Mediation oder Schlichtung unternehmen.

Verfahren, in denen eine einvernehmliche Beweisaufnahme stattfand, werden im Rahmen der Terminierung von Verhandlungsterminen künftig bevorzugt behandelt.

Art. 127.-Dans le respect des principes directeurs du procès, les affaires sont instruites conventionnellement par les parties. A défaut, elles le sont judiciairement.
Les affaires instruites conventionnellement font l’objet d’un audiencement prioritaire.

Digitalisierung 

Die Digitalisierung der Ziviljustiz wird weiter ausgebaut. Nutzen ab 1. November 2025 Bürgerinnen und Bürgern das Justizportal, ist nach dem Décret n° 2025-619 du 8 juillet 2025 unwiderruflich davon auszugehen, dass sie mit der elektronischen Justizkommunikation einverstanden sind.

Fazit

Unser Nachbarland Frankreich reformiert derzeit sein Zivilprozessrecht mit anderen Ansätzen und Prioritäten als in Deutschland. Während hierzulande die Digitalisierung des zivilprozessualen Regelverfahrens (z. B. durch Einführung eines Online-Verfahrens im Bereich geringfügiger Streitwerte, Aufbau eines bundesweit einheitlichen Justizportals oder KI-Einsatz in der Justiz) und Optimierung seiner Durchführung (z. B. durch Strukturierung des Streitstoffs, Stärkung des Kollegialprinzips und stärkere Spezialisierung) im Vordergrund stehen, setzt man jenseits des Rheins verstärkt auf Alternativen zum Gerichtsverfahren und eine intensivierte Kooperation von Parteien und Gericht. 

In Frankreich ist die Tendenz klar erkennbar, im Rahmen einer „Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung“ (culture de l´amiable) nur noch die Zivilsachen dem Richter zuzuführen, für die sich keine alternative, einvernehmliche Lösung abzeichnet. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neuen Regeln in der französischen Rechtspraxis bewähren.  

Hinweis: Beim Beitragsbild handelt es sich um ein mit Google Genini KI-generiertes Bild.

Deutsch-französisches Forschungsatelier: Bürgernahe Ziviljustiz 2.0

Im Jahr 2013 fand das erste deutsch-französische Forschungsatelier der Universitäten Erlangen-Nürnberg, Lyon 3 und Saint-Étienne zum Thema „Die bürgernahe Ziviljustiz in Deutschland und Frankreich“ statt. Seitdem hat sich viel getan: Die Diskussionen um eine Digitalisierung der Ziviljustiz haben in Deutschland und in Frankreich deutlich Fahrt aufgenommen. Zudem entwickelt sich, zumindest in Frankreich, nach und nach eine Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung. Elf Jahre nach der ersten Veranstaltung gilt es daher, dieses so wichtige Thema einer Aktualisierung zu unterziehen.
Am 12. und 13. März 2024 werden etwa 50 deutsche und französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Promovierende und Studierende für rechtsvergleichende Überlegungen zur bürgernahen Ziviljustiz an der Universität Lyon 3 zusammenkommen.

Abschlussbericht „Die obligatorische Schlichtung im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“

Drei Jahre lange durfte ich, mit einem tollen Team der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und des CERCRID (Universität Saint-Etienne/Frankreich) die obligatorische Schlichtung im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich rechtsvergleichend erforschen.

Die Arbeit wurde vom Institut des études et de la recherche sur le droit et la justice unterstützt.

Der Abschlussbericht und eine Zusammenfassung sind nun unter https://gip-ierdj.fr/fr/publications/mediation-conciliation-proces/ erschienen.

Eine Vorstellung der Ergebnisse in deutscher Sprache und für die deutschen Akteure der obligatorischen Schlichtung ist bereits in Arbeit.

Künstliche Intelligenz in der Ziviljustiz

In einem Legal Tech Labor 2.0: Forschungs- und Schreibatelier „Digitalisierung des Zivilprozesses“ konnten wir am 11. Juli 2023 über einzelne Aspekte des Einsatzes von KI in der Ziviljustiz diskutieren.

Die Videos der Vorträge vom 11.7.2023 sind nun online verfügbar:

  • Psychologische Perspektive auf KI, Digitalisierung und algorithmische Entscheidungen im Kontext der Digitalisierung der Ziviljustiz (Dr. Jonas Ludwig, Tel Aviv)
  • Einsatz von KI zur Anonymisierung von Gerichtentscheidungen (Michael Keuchen, FAU)
  • Digitalisierung von Justiz und Haftungsrecht – Wechselwirkungen?
    Zur Staatshaftung für den Einsatz von KI in der Justiz (PD Dr. Martin Zwickel, Maître en droit, FAU)

Die Videoaufzeichnungen der Vorträge sind unter folgendem Link abrufbar: https://www.digitalisierung-zivilprozess.fau.de/2023/07/17/die-videos-der-vortraege-vom-11-7-2023-sind-online/

Künstliche Intelligenz in der Ziviljustiz im Legal Tech Labor 2.0

In unserer nächsten Veranstaltung des Legal Tech Labors 2.0: Digitalisierung des Zivilprozesses wollen wir den Blick ganz gezielt auf den Einsatz von KI in der Ziviljustiz richten und bisher wenig beleuchtete Fragen thematisieren. Am 11.7.2023 stehen im Rahmen einer hybriden Veranstaltung (Zoom und Präsenz) folgende Vorträge auf dem Programm:

  • Psychologische Perspektive auf KI, Digitalisierung und algorithmische Entscheidungen im Kontext der Digitalisierung der Ziviljustiz (Dr. Jonas Ludwig, Tel Aviv)
  • Einsatz von KI zur Anonymisierung von Gerichtentscheidungen (Michael Keuchen, FAU)
  • Digitalisierung von Justiz und Haftungsrecht – Wechselwirkungen?
    Zur Staatshaftung für den Einsatz von KI in der Justiz
    (PD Dr. Martin Zwickel, Maître en droit, FAU)

Alle Interessierten (Studierende, Promovierende, Wissenschaftler/-innen, Rechtspraktiker/-innen) sind sehr herzlich eingeladen.

Das Programm und eine Anmeldemöglichkeit finden sich unter https://www.digitalisierung-zivilprozess.fau.de/.

Legal Tech Labor 2.0: Digitalisierung des Zivilprozesses – Jetzt anmelden!!

Am 23. und 24. März 2023 veranstalte ich mit ELSA Erlangen-Nürnberg ein Forschungs- und Schreibatelier zur Digitalisierung des Zivilprozesses. Das Legal Tech Labor 2.0 findet in einem hybriden Format (Präsenz/Zoom) statt.

Themen

  • Strukturierung von Verfahren und Prozessstoff
  • Digitale Verfahrensführung im Zivilprozess der Zukunft
  • Verfahrensabschluss (Entscheidungsassistenz, Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen)

Ablauf

  • Im Forschungsatelier arbeiten die Teilnehmenden, nach Impulsen, gemeinsam in Workshops an innovativen Ideen für bestimmte Facetten der Digitalisierung des Zivilprozesses. In den Workshops werden zusätzlich rechtsvergleichende Ideen/Ansätze beigesteuert.
  • Im (kurzen) Schreibatelier besteht, nach einer Einführung in die Grundsätze wissenschaftlichen Schreibens, Gelegenheit, gefundene Ideen in Gruppen oder alleine unmittelbar zu Papier zu bringen. Die Ergebnisse des Schreibateliers bilden die Basis für eine Veröffentlichung in einem Tagungsband.

Weitere Infos und Anmeldung

Weitere Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung finden sich unter https://www.digitalisierung-zivilprozess.fau.de/

Jetzt unter https://www.digitalisierung-zivilprozess.fau.de/ anmelden – es sind noch Plätze frei!

Selbstverständlich ist auch eine Zoom-Zuschaltung zu einzelnen Teilen des Programms möglich.

Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen: Ergebnisse einer Umfrage bei den EU-Mitgliedsstaaten

Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung heißt es: “Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.” Über eben jene Veröffentlichung möglichst aller Gerichtsentscheidungen wird seitdem in der juristischen Fachöffentlichkeit viel diskutiert. Das OLG Celle hat die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen am 14.12.2022 unter dem Titel “Sind Urteile für alle da?” mit einer sehr aufschlussreichen Podiumsdiskussion in den Blick genommen. 

Auch auf europäischer Ebene gibt es interessante Informationen zur Thematik: 

Die französische Präsidentschaft des Rats der EU hat bei zahlreichen Mitgliedsstaaten den aktuellen Stand in Sachen “Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen” abgefragt und einen vergleichenden Bericht erarbeitet. 

Überblick über die Inhalte des Berichts

Fünf Erkenntnisse gehen aus dem Bericht hervor: 

  1. Alle befragten Staaten arbeiten an einer digitalen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen, das aber in ganz unterschiedlichem Umfang. Teilweise steht für Mitgliedsstaaten (wie z. B. Frankreich) schon fest, dass perspektivisch alle Gerichtsentscheidungen veröffentlicht werden sollen (dazu Zwickel, RohR 2021, 132 ff.). Die meisten Mitgliedsstaaten veröffentlichen nur eine Auswahl an Entscheidungen. 
  2. Gründe, die die Veröffentlichung im Einzelfall beschränken können, sind Rechte und schutzwürdige Interessen der Betroffenen einerseits oder Relevanzkriterien (wie z. B. die deutsche Veröffentlichungswürdigkeit) andererseits.
  3. Alle befragten Mitgliedsstaaten nehmen eine Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung vor der Veröffentlichung vor (per KI, automatisiert oder händisch).  
  4. Nur ein kleiner Teil der befragten Staaten schränkt die Verwendung der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen durch Spezialregelungen ein. Schon seit 2019 ist es etwa in Frankreich verboten, die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf Identitätsdaten von Richtern und Justizangehörigen mit dem Ziel oder der Wirkung auszuwerten, eine Bewertung, Analyse, Vergleich oder Vorhersage ihrer tatsächlichen oder angeblichen Berufspraktiken zu erhalten. 
  5. Von Ausnahmefällen abgesehen gibt es keinerlei Streitbeilegungseinrichtungen oder Kontrollinstanzen im Hinblick auf die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen. 

Link zum Bericht

http://www.justice.gouv.fr/_telechargement/rapport_pfue_sem_cmjn.pdf

Fazit

Es zeigt sich deutlich, dass nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten im Bereich der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen aktiv sind. Es ist daher an der Zeit, dass in Deutschland nicht mehr über das (seit der Entscheidung des BVerwG vom 26.2.1997, 6 C 3.96 ohnehin schon als verpflichtend gesetzte) “Ob” der Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen diskutiert wird, sondern über das “Wie”. 

Folgende (nicht abschließenden) Fragen zeigen den großen Diskussions- und Abstimmungsbedarf beispielhaft auf: 

  • Welchen Grad an Anonymisierung/Pseudonymisierung brauchen wir? 
  • Sollten alle Gerichtsentscheidungen gleichrangig und unselektiert veröffentlicht werden oder brauchen wir eine gewisse Hierarchisierung (etwa nach Instanz)?
  • Brauchen wir eine Markierung wirklich relevanter Entscheidungen (z. B. bei Rechtsprechungsänderungen) durch das erkennende Gericht?
  • Macht die massenhafte Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine Änderung der Arbeitsweise von Gerichten und Rechtsanwaltschaft im Umgang mit Präjudizien erforderlich (z. B. Angabe nur des Aktenzeichens und eines Kategorisierungsmerkmals für den Grund des Zitats, wie “abweichende Rechtsprechung”, “Bestätigung”, etc. statt Wiedergabe von Entscheidungsinhalten durch wörtliche Zitate)?
  • Muss die Auswertung der Entscheidungsdaten durch Rechtsregeln gelenkt werden (z. B. Verbot von Rückschlüssen auf die Tätigkeit einzelner Richter/-innen)?
  • Wer kontrolliert die Anonymisierung und Veröffentlichung?
  • Wie müssen Wissenschaft und Juristenausbildung künftig mit der neuen Fülle an Argumentationsmaterial in Form von Gerichtsentscheidungen umgehen?  

Neuerscheinung: „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“

Das von mir mit herausgegebene Werk „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ ist soeben im Verlag Duncker&Humblot erschienen.

Weitere Infos zum Werk erhalten Sie im Flyer:

Zielstellung

Die Digitalisierung der Ziviljustiz ist derzeit in aller Munde. Im Januar 2021 hat die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ein Diskussionspapier vorgelegt, das seitdem vielfach Gegenstand von Diskussionen und Veranstaltungen war. Wie auch unsere Online-Tagung vom 1. und 2. Juli 2021, deren Beiträge und Ergebnisse das Werk dokumentiert, soll es die bisherigen Überlegungen in mehrfacher Hinsicht erweitern:

  • In dem Tagungsband werden rechtliche Fragen der Digitalisierung des Zivilprozesses diskutiert und um die Expertise aus der Informatik ergänzt.
  • Praktische und interdisziplinäre Betrachtungen finden ihren Platz. So wird z. B. die automatische Prüfung von Einkommenssteuererklärungen der Steuerverwaltung auf ihre Vorbildfunktion für die Ziviljustiz untersucht. Schließlich werden Beiträge von Kommunikationspsychologen, Gerichtsvollziehern und Akteuren der einvernehmlichen Streitbeilegung einbezogen und rechtsvergleichende Erfahrungsberichte berücksichtigt.
  • Auch verfassungsrechtliche Aspekte vermögen die Reformüberlegungen zu bereichern.

Inhalte

Den Ausgangspunkt der Betrachtungen bildet eine Standortbestimmung, die das Spannungsfeld zwischen „Digitalisierung und Rechtsdurchsetzung durch Justiz versus Private“ analysiert. Die weiteren Teile orientieren sich an zentralen Herausforderungen der Justizdigitalisierung:

  • Strukturen von Daten und Verfahren als Voraussetzungen digitalen Prozessierens
  • Automatisierung des Zivilprozesses
  • Kommunikation im digitalen Zivilprozess der Zukunft
  • Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung

Insgesamt zeigt der Band deutlich, dass in den Überlegungen zur Digitalisierung des Zivilprozesses ein ständiger, kleinschrittiger Abgleich der technischen und der juristischen Diskussionsebene stattfinden sollte.

Möge das Werk einige Denkanstöße dafür liefern! Alle Herausgeberinnen und Herausgeber werden weiterhin an der Thematik arbeiten!

Deutsch-französische Tagung „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“

Am Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg organisiere ich mit dem CERCRID (Universität Jean Monnet Saint-Étienne) am 27. und 28. Juni 2022 ein gemeinsames deutsch-französisches Seminar zum Thema „Die obligatorische Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich“ . Im Seminar soll in mehreren World-Café-Runden ein intensiver Austausch deutscher und französischer Wissenschaftler/-innen, Schlichter/-innen, Richter/-innen sowie weiterer an der Thematik der einvernehmlichen Streitbeilegung interessierter Personen stattfinden. Diskutiert werden verschiedene, im Zwischenbericht des Forschungsvorhabens aufgeworfene Fragen der obligatorischen Schlichtung/Mediation im Zivilprozess in Deutschland und Frankreich. Ziel ist es, auf diesem Wege rechtsvergleichende Erkenntnisse bzw. Vorschläge zur Praxis und Ausgestaltung der obligatorischen Schlichtung in beiden Ländern zu gewinnen.

Interessierte sind herzlich zu dieser Veranstaltung eingeladen!

Bei Interesse am Programm, an einer Teilnahme bzw. den Arbeitsergebnissen freue ich mich über eine kurze Mail!

Videodokumentation „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“

Zur von mir mitveranstalteten Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ am 1./2.7.2021 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) sind nun die Videoaufzeichnungen der Vorträge und der Diskussionen verfügbar.

Sie sind über den Link https://www.digitalisierung-zivilprozess2021.fau.de/video-dokumentation-der-tagung/ erreichbar.

Ein Tagungsband, der in der Reihe Schriften zum Prozessrecht (PR) bei Duncker & Humblot erscheinen wird, ist in Vorbereitung.