Der französische Gesetzgeber reformiert mit mehreren Décrets (Verordnungen) derzeit sein Zivilprozessrecht. Viele der Änderungen des Code de procédure civile (CPC) gelten bereits ab dem 1. September 2025.
Durch die Reformen kommt es zu einer Neuausrichtung des Zivilprozesses. Drei Kernelemente kennzeichnen diesen Paradigmenwechsel:
- Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung: Die Reformen machen deutlich, dass Frankreich es mit der Etablierung einer Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung ernst meint. Der Zivilprozess ist fortan nicht mehr das Standardstreitbeilegungsinstrument in Zivilsachen. Vielmehr gehört es auch zum Auftrag der Richterinnen und Richter, gemeinsam mit den Parteien das optimal für die Beilegung des Rechtsstreits geeignete Verfahren festzulegen (Art. 21 CPC in der ab 1. September 2025 gültigen Fassung).
- Kooperationsmaxime: Die Durchführung des Beweisaufnahmeverfahrens ist nicht mehr nur Sache des Gerichts. Vielmehr findet ein Rollentausch statt. Grundsätzlich steuern die Parteien in ab dem 1. September 2025 neu eingeleiteten Verfahren einvernehmlich das Verfahren der Beweisaufnahme. Nur bei Scheitern dieses Unterfangens greift das Gericht ein.
- Digitalisierung: Der elektronische Rechtsverkehr, auch über das bereits existente Bürgerportal www.justice.fr, wird weiter gefördert.
Überblick
Folgende Reformverordnungen liegen derzeit vor:
- Décret n° 2024-673 du 3 juillet 2024 portant diverses mesures de simplification de la procédure civile et relatif aux professions réglementées (Magicobus 1):
Stärkung der Rolle des für die Beweisaufnahme zuständigen Richters, des juge de la mise en état und Ausweitung der sog. audience de règlement amiable (ARA) ab 1. September 2024 - Décret n° 2025-619 du 8 juillet 2025 portant diverses mesures de simplification de la procédure civile (Magicobus 2):
Digitalisierung der Justiz und Anpassung der Regeln über zivilprozessuale Schriftsätze - Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025 portant réforme de l’instruction conventionnelle et recodification des modes amiables de résolution des différends:
Kollaborationsprinzip und Neukodifikation des fünften Buches der französischen Zivilprozessordnung über die einvernehmliche Streitbeilegung ab 1. September 2025 - Décret n° 2025-772 du 5 août 2025 relatif à la procédure applicable au contentieux de l’indemnisation des passagers en cas de refus d’embarquement, d’annulation ou de retard important d’un vol: Einführung einer obligatorischen Verbrauchermediation für Klagen auf Basis der EU-Fluggastrechte-Verordnung ab 7. Februar 2026.
Zentrale Reformthemen
Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung
Neues Grundprinzip
Mit dem Décret vom 18. Juli 2025 wird der Verfahrensgrundsatz des Art. 21 CPC geändert. Er lautet ab 1. September 2025 wie folgt:
“Il entre dans la mission du juge de concilier les parties et de déterminer avec elles le mode de résolution du litige le plus adapté à l’affaire.”
Die fett markierte, neue Klarstellung macht deutlich, dass der Richter auch einen Auftrag im Rahmen der Auswahl eines geeigneten Streitbeilegungsverfahrens hat.
Neues fünftes Buch der französischen ZPO zur einvernehmlichen Streitbeilegung und verpflichtendes Informationsgespräch über die einvernehmliche Streitbeilegung
In einem neu konzipierten fünften Buch des CPC werden alle Mechanismen der einvernehmlichen Streitbeilegung übersichtlich geregelt.
Neu sind allgemeine Regeln zur Vertraulichkeit aller Verfahren der alternativen Konfliktlösung.
Eine weitere zentrale Neuerung im französischen Zivilprozess durch das Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025 ist die ab 1. September 2025 gegebene Möglichkeit der sanktionsbewährten richterlichen Anordnung eines verpflichtenden Informationsgesprächs bei einem Schlichter oder Mediator zu Zielen und Ablauf eines entsprechenden Verfahrens der einvernehmlichen Streitbeilegung. Der Richter kann das Fernbleiben einer Partei ohne vernünftigen Grund mit einer Strafzahlung (amende civile) in Höhe von maximal 10.000 € sanktionieren.
Art. 1533.-Le juge peut, à tout moment de l’instance, enjoindre aux parties de rencontrer, dans un délai qu’il détermine, un conciliateur de justice ou un médiateur qui les informera sur l’objet et le déroulement de la conciliation ou de la médiation.
Art. 1533-3.-Le conciliateur de justice ou le médiateur informe le juge de l’absence d’une partie à la réunion.
La partie qui, sans motif légitime, ne défère pas à l’injonction prévue au premier alinéa de l’article 1533 peut être condamnée au paiement d’une amende civile d’un maximum de 10 000 euros.
Ausweitung der audience de règlement amiable (ARA)
Die erst ab 1. November 2023 eingeführte audience de règlement amiable (ARA) wird auf alle Verfahren (auch Berufungsverfahren!) ausgeweitet und in das neue fünfte Buch der ZPO übernommen. Sie entspricht grob dem deutschen Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPO. Nach entsprechender Verweisung durch das erkennende Gericht führt, im Rahmen der ARA, ein nicht entscheidungszuständiger Richter eine gerichtsintegrierte Schlichtung durch.
Art. 1532.-Le juge saisi du litige ou chargé de l’instruction de l’affaire peut, à la demande de l’une des parties ou d’office après avoir recueilli leur avis, décider qu’elles seront convoquées à une audience de règlement amiable tenue par un juge qui ne siège pas dans la formation de jugement.
Art. 1532-1.-L’audience de règlement amiable a pour finalité la résolution amiable du différend entre les parties, par la confrontation équilibrée de leurs points de vue, l’évaluation de leurs besoins, positions et intérêts respectifs, ainsi que la compréhension des principes juridiques applicables au litige.
Le juge chargé de l’audience de règlement amiable peut prendre connaissance des conclusions et des pièces échangées par les parties.Art. 1532-3.-A l’issue de l’audience, les parties peuvent demander au juge chargé de l’audience de règlement amiable, assisté du greffier, de constater leur accord, total ou partiel, dans les conditions du troisième alinéa de l’article 1531.
Le juge informe le juge saisi du litige qu’il est mis fin à l’audience de règlement amiable et lui transmet, le cas échéant, le procès-verbal d’accord.
Obligatorische Mediation für Fluggastrechtestreitigkeiten
Für Fluggastrechtstreitigkeiten nach der EU-Fluggastrechteverordnung ist ab 7.2.2026, nach dem Décret n° 2025-772 du 5 août 2025 , vor Anrufung eines Zivilgerichts ein obligatorischer Mediationsversuch erforderlich. Fehlt dieser Mediationsversuch, weist der Richter die Klage von Amts wegen als unzulässig ab. Zuständig für den Mediationsversuch ist der médiateur de la consommation, der Verbrauchermediator. Die obligatorische Mediation greift aber nicht, sofern der Anspruch vor dem 7.8.2025 schon bei der Fluggesellschaft geltend gemacht wurde.
Zudem darf eine Klage künftig nur noch im Namen eines Einzelklägers oder für bestimmte Verwandte erhoben werden. Eine Bündelung der Ansprüche einer Vielzahl an Anspruchsberechtigten ist künftig nicht mehr möglich.
A peine d’irrecevabilité que le juge relève d’office, l’assignation ne peut être délivrée qu’au nom d’un seul demandeur ou conjointement par les passagers d’un même vol, dès lors qu’ils sont ascendants ou collatéraux jusqu’au quatrième degré, ou conjoints, partenaires liés par un pacte civil de solidarité ou concubins, et après avoir été précédée d’une tentative de médiation devant un médiateur de la consommation dans les conditions prévues par les articles L. 612-1 à L. 612-3 et R. 612-1 à R. 612-5 du code de la consommation.
L’irrecevabilité pour absence de tentative de médiation préalable ne peut être opposée au demandeur lorsque cette absence est justifiée par un motif légitime tenant soit aux circonstances de l’espèce qui ont rendu impossible la saisine du médiateur dans le délai d’un an prévu au 4° de l’article L. 612-2 du code de la consommation, soit à l’indisponibilité du médiateur de la consommation laquelle n’a pas permis que l’issue de la médiation intervienne dans un délai de six mois à compter de sa saisine.
Kooperationsmaxime
Einvernehmliche Beweisaufnahme
Das Verfahren der Beweisaufnahme wird künftig standardmäßig einvernehmlich von den Parteien durchgeführt (Décret n° 2025-660 du 18 juillet 2025). Dazu steht den Parteien für ab dem 1. September 2025 neu eingeleitete Verfahren zusätzlich das neue Instrument eines einfach ausgestalteten Prozessvertrags (instruction conventionnelle simplifiée) zur Verfügung, in dem sie Details wie etwa Beweismittel und Beweisverfahren regeln können. So kann beispielsweise ein Sachverständiger einvernehmlich von den Parteien beauftragt werden und das Ergebnis dann im Zivilprozess verwendet werden. Ein solcher Sachverständiger darf zugleich auch eine Mediation oder Schlichtung unternehmen.
Verfahren, in denen eine einvernehmliche Beweisaufnahme stattfand, werden im Rahmen der Terminierung von Verhandlungsterminen künftig bevorzugt behandelt.
Art. 127.-Dans le respect des principes directeurs du procès, les affaires sont instruites conventionnellement par les parties. A défaut, elles le sont judiciairement.
Les affaires instruites conventionnellement font l’objet d’un audiencement prioritaire.
Digitalisierung
Die Digitalisierung der Ziviljustiz wird weiter ausgebaut. Nutzen ab 1. November 2025 Bürgerinnen und Bürgern das Justizportal, ist nach dem Décret n° 2025-619 du 8 juillet 2025 unwiderruflich davon auszugehen, dass sie mit der elektronischen Justizkommunikation einverstanden sind.
Fazit
Unser Nachbarland Frankreich reformiert derzeit sein Zivilprozessrecht mit anderen Ansätzen und Prioritäten als in Deutschland. Während hierzulande die Digitalisierung des zivilprozessualen Regelverfahrens (z. B. durch Einführung eines Online-Verfahrens im Bereich geringfügiger Streitwerte, Aufbau eines bundesweit einheitlichen Justizportals oder KI-Einsatz in der Justiz) und Optimierung seiner Durchführung (z. B. durch Strukturierung des Streitstoffs, Stärkung des Kollegialprinzips und stärkere Spezialisierung) im Vordergrund stehen, setzt man jenseits des Rheins verstärkt auf Alternativen zum Gerichtsverfahren und eine intensivierte Kooperation von Parteien und Gericht.
In Frankreich ist die Tendenz klar erkennbar, im Rahmen einer „Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung“ (culture de l´amiable) nur noch die Zivilsachen dem Richter zuzuführen, für die sich keine alternative, einvernehmliche Lösung abzeichnet. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neuen Regeln in der französischen Rechtspraxis bewähren.
Hinweis: Beim Beitragsbild handelt es sich um ein mit Google Genini KI-generiertes Bild.